Florian Fell:

Männliche Sozialisation, Identität und Sozialarbeit

Geschlechtsspezifische Aspekte der Identitätsbildung von Sozialarbeitsstudenten (1)

1 Einleitung

1.1 Mein Interesse am Thema

1.2 Annäherung an ein vielschichtiges Thema

2 Geschlechtsspezifische Sozialisation, Identität und Beruf

2.1 Grundannahmen zur Identitätsbildung

2.2 Geschlechtsspezifische Sozialisation und geschlechtsspezifische Identität

2.3 Beruf als Identitätsfaktor bei Männern und Frauen

3 Männliche Identität und Sozialarbeit

3.1 Das offensichtlich geringe Interesse der Männer an sozialer Arbeit

3.2 Welche Männlichkeit? - sind Sozialarbeiter "weibliche" Männer?

3.3 Die Erfahrung des Andersseins

4 Beispiele von Identitäten

4.1 Lebensläufe von männlichen Sozialarbeitern; Berufswahl

4.2 Drei Bespiele für Identitätsbildung in Hinblick auf die Entscheidung für den Beruf der Sozialarbeit

5 Schlußfolgerungen

5.1 Distanz zu männlichen Stereotypen als gemeinsame Dimension von Identität bei männlichen Sozialarbeitsstudenten

5.2 Ausblick: Identität als Sozialarbeiter und Freisetzung aus dem männlichen Rollenzwang?






1. Einleitung

1.1. Mein Interesse am Thema

Unter den 7532 im Wintersemester 1996/97 an Bayerns Fachhochschulen und Universitäten eingeschrieben StudentInnen der Sozialen Arbeit waren lediglich 27% Männer; von den 1212 an der FH München im Fachbereich Sozialwesen eingeschriebenen StudentInnen waren es sogar nur 24% . In vielen Lehrveranstaltungen, an denen ich teilnehme, erscheint mir die Ungleichverteilung noch stärker.

Bei mir selbst hat die Entscheidung, Soziale Arbeit zu studieren sehr viel mit meiner Identität bzw. mit meiner Suche nach Identität zu tun. Ich studiere dieses Fach gerade auch, weil ich in den sich hier bietenden Tätigkeitsbereichen mir eine berufliche Identität vorstellen kann, die mit den anderen Aspekten meiner Identität kongruent ist. Ich habe vor meinem Studium der Sozialen Arbeit die Erfahrung gemacht, daß eine Berufliche Tätigkeit, die der Vorstellung von der eigenen Person und einem sinnvollen Leben widerspricht, zu einem unglücklichen oder zumindest unzufriedenen Leben führt. Seitdem ich Soziale Arbeit studiere, interessiert mich, wie es kommen kann, daß vergleichsweise so wenige Männer sich für diesen Bereich entscheiden, bzw. so wenige Männer sich mit den Tätigkeiten im Bereich der sozialen Arbeit identifizieren können. Vielfach erlebt man(n) auch als Sozialpädagoge, daß andere Männer mit leicht ironischem Gesichtsausdruck einem vermitteln, daß sie Sozialpädagogen nicht für "richtige" Männer halten. Ein Beispiel: Ein mir bekannter Psychologe, Leiter einer Einrichtung der Suchtprävention sagte einmal - in meiner Anwesenheit und der zweier Sozialpädagoginnen meiner Praktikumsstelle - sinngemäß, daß er Sozialpädagogen alle nicht für "richtige" Männer halte, weil sie ja freiwillig darauf verzichteten, Macht auszuüben und etwas werden zu wollen.

Die Beschäftigung mit dem Thema Männlichkeit und Berufswahl entspricht auch meinem Interesse, mich selber besser zu verstehen, wie es um meine (männliche) Identität steht und was es damit auf sich hat, daß ich mich mit dem herkömmlichen Schema von männlicher Identität (z. B. als einer "hegemonialen" Männlichkeit) nicht identifizieren kann/will und unter anderem auch deshalb Soziale Arbeit studiere.

1.2 Annäherung an ein vielschichtiges Thema

Selten habe ich bei der Anfertigung einer Studienarbeit so lange gebraucht, um die ersten Zeilen zu Papier zu bringen wie dieses mal. Mir fiel zunächst auf, daß - im Gegensatz zu Ansätzen aus der Frauenbewegung - Männer offensichtliche kaum je ernsthaft auf die Idee gekommen sind, ihre herkömmlichen Sozialisations- und Identifikationsmuster in Frage zu stellen. So fand ich keine spezifische Literatur von Seiten der kaum vorhandenen "Männerforschung". Geschlechterforschung scheint - bis heute - Frauenforschung zu sein (auch, wenn man Suchmaschinen im Internet bemüht). Beschreibungen männlicher Sozialisation schienen mir als Wiedergabe von Stereotypien, die mit der spezifischen Männlichkeit mir bekannter Sozialarbeiter bzw. Studenten der Sozialen Arbeit nichts zu tun haben. Ich kam nicht weiter und fragte mich: Sind Sozialpädagogen prinzipiell untypisch sozialisiert? Dann aber sind (zumindest im Rahmen einer Studienarbeit) kaum gültige Aussagen darüber zu treffen, welche Ausprägungen welcher Dimension von Identität mit der Entscheidung, Sozialarbeiter werden zu wollen, in Zusammenhang zu bringen sind. Dies könnte allenfalls im Rahmen einer breit angelegten empirischen Studie mit qualitativem Schwerpunkt geschehen. Ich beschloß daher, mich in dieser Arbeit auf drei Punkte bzw. Fragestellungen zu beschränken:

Ich werde einen kurzen Abriß geben über den Zusammenhang von geschlechtsspezifischer Sozialisation, Identität und Beruf in Hinblick auf die Sozialarbeit;

dann werde ich die Frage stellen, warum die meisten Männer Sozialarbeit als Beruf für sich ablehnen und welche Besonderheiten bei Identitäten von Männern, die sich für Sozialpädagogik entschieden haben, anzutreffen sind.

Schließlich werde ich einige beispielhafte Statements von Kommilitonen zu ihrer Identität als männliche Sozialarbeiter wiedergeben und kommentieren.

2 Geschlechtsspezifische Sozialisation, Identität undBeruf

2.1 Grundannahmen zur Identitätsbildung

Aus meiner Sicht ist Identitätsbildung immer ein gesellschaftlicher und zugleich ein in höchstem Maße individueller und persönlicher Prozeß. Identitätsbildung ist bestimmt durch Sozialisationsfaktoren, die auf den einzelnen einwirken einerseits und individuelle intrapsychische Verarbeitungsmuster andererseits. Wo Sozialisation stattfindet, kommt es auch zur Identitätsbildung. Die Identität eines Individuums wiederum ist mitbestimmend für die Sozialisationsbedingungen anderer Individuen. Identität ist eine Vorstellung von sich selbst, die außerdem zu jeder Zeit das Bestreben hat, sich anderen mitzuteilen und von diesen bestätigt zu werden: Wer sich anders identifiziert als er von seiner sozialen Umgebung identifiziert wird, gerät in heftigste Verwirrung. So findet Identitätsbildung immer an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft statt. Sie befindet sich im permanenten Spannungsfeld zwischen Zuschreibungen von außen und der Aneignung und - kreativen - Integration dieser Zuschreibungen durch den einzelnen Menschen.

2.2 Geschlechtsspezifische Sozialisation und geschlechtsspezifische Identität

Identitätsbildung in der Spätmoderne

Zu keiner Zeit waren die Möglichkeiten unterschiedlicher Sozialisation und Identifikation so groß wie gegenwärtig; gleichzeitig waren die Anforderungen an die Menschen noch nie so groß, sich ihre individuelle Identität zu schaffen, sie letztendlich immer wieder neu zu konstruieren. Identitäten in unserer Zeit können mehr oder weniger stabil sein: Kaum mehr sind sie jedoch ein Kontinuum des Lebens. Fragmentarische Lebensläufe erzählen oft auch die Geschichte einer Identität, die sich ständig aktualisieren muß, um nicht zu zerfallen. Identität und soziale Position sind nach den Freisetzungsprozessen der Moderne nicht mehr aneinander gebunden; der Prozeß der Identitätsbildung kann ohne Verlust der sozialen Position zeitweise außer kraft gesetzt werden (Wagner 1995, 268). In der krisenhaft modernen Gesellschaft besteht für den einzelnen die Notwendigkeit zur Identitätsfindung in unsicheren Bindungen. Dabei können diejenigen, die dazu in der Lage sind, ihre Identitäten frei kombinieren; die anderen werden anfällig für Ängste oder hängen sich an scheinbar sichere Rückbindungen (Wagner 1995,250) wie religiöse und politische Extremismen.

Bei all diesen Umbrüchen bleibt es jedoch dabei: Die Trennung der Bereiche Erwerbsleben und Familie, also die Produktion im Erwerbsleben und die Reproduktion in der Familie, ist nach wie vor gegeben. Auch wenn die Familie nicht mehr lebenslange Verwurzelung bietet, sondern vielmehr durch den Freisetzungsprozeß die "Familienbindung der Biographie in der Zeitachse im Wechsel zwischen den Lebensabschnitten durchlöchert und so aufgehoben" wird (Beck 1986, 188), gilt immer noch: Das zentrale Moment der Sozialisation ist die "Arbeitsteilung nach Geschlecht in ihrer historisch gewordenen Form" (Bilden 1980, 785). Hinzu kommen normative Rollen- und Charaktervorstellungen über Männlichkeit und Weiblichkeit (Bilden 1980, a.a.O.), die nicht nur in die Erziehung einfließen sondern in Medien wie Fernsehen und Kinderbüchern allgegenwärtig sind - bis hin zur unkritischen "Idyllisierung" der Familie.

Geschlechtsspezifische Sozialisation in der Familie

Die Familie bleibt also trotz aller Umbrüche und biographischen Beschränktheit weiterhin ein Ort, an dem in hergebrachten Bindungen Identität gebildet wird. Ein beträchtlicher Teil der identitätsbildenden Einflüsse besteht dabei aus geschlechtsspezifischen Rollenvorbildern, Rollenerwartungen, Charaktererwartungen und - vor allem - Anleitungen, wie man(n)/frau sich zu sehen und zu erleben hat und wie man/frau zu sein hat, um eine "gültige" Geschlechtsidentität zu haben. Dort findet die weibliche Sozialisation in Richtung auf die reproduzierende Sphäre in der Familie statt und die männliche in Richtung auf die produzierende im Erwerbsleben außerhalb der Familie. Danach ist nach wie vor die Zuschreibung weiblicher Identität zentriert um Begriffe wie Sensibilität, Fürsorglichkeit, Menschlichkeit, Einfühlungsvermögen, die der reproduktiven Seite zugerechnet werden. Die Zuschreibung männlicher Identität ist zentriert um Begriffe wie Leistungsfähigkeit, Kraft, Durchsetzungsvermögen, die für Erfolg im Erwerbsleben stehen.

In ihrem Konzept der Sozialisation als Ontogenese geht Helga Bilden von einem Prozeß der tätigen Aneignung aus (Bilden 1980, 786). Ich möchte mich dem in Hinblick auf Identitätsbildung anschließen: Identitätsbildung ist immer auch ein Prozeß der aktiven Aneignung. Ich gehe davon aus, daß das zur geschlechtsspezifischen Sozialisation gesagte daraufhin gültige Aussagen enthält, was an der Bildung der Identität geschlechtsspezifisch ist. Identität als Vorstellung über sich selbst ist abhängig von den Identifikationsangeboten der Umwelt; diese sind vielfach geschlechtsspezifisch geprägt. Die Aneignung männlicher bzw. weiblicher Sozialisationsmuster und eine positive Rückmeldung durch die Umwelt und Zuschreibungen von Angemessenheit und Normalität sind mithin konstitutiv für die Bildung spezifisch weiblicher und männlicher Identitäten. Da die unterschiedlichen Muster und Zuschreibungen vor allem auf der Trennung zwischen den Bereichen Erwerbsleben und Familie basiert, ist eine Affinität von Geschlecht und Berufswahl nicht verwunderlich.

2.3 Beruf als Identitätsfaktor bei Männern und Frauen

Das Wortpaar "Beruf und Identität" könnte aus Sicht tradierter Sichtweisen in Richtung auf männliche Identität in einem Atemzug genannt werden, ebenso wie in Richtung auf die weibliche Identität das Wortpaar "Familie und Identität". Das "männliche Prinzip" ist bestimmt durch Begriffe wie Kompetenz und Leistungsfähigkeit (Bilden 1980, 786). Die berufliche Stellung und Laufbahn ist bestimmendes Moment für den Mann in seiner Biographie und damit identitätsstiftend. Bei Männern fallen in der Spätmoderne trotz des Freisetzungsprozesses selbständige ökonomische Existenzsicherung und alte Rollenidentität zusammen (Beck 1986, 185).

Bei Frauen ist die Situation eine andere: Trotz der Angleichung der Bildungschancen ist es nicht zu einer Angleichung der Chancen von Mann und Frau im Arbeitsleben gekommen (Beck 1986, 166), es gibt nach wie vor typische "Frauenberufe", es bleibt bei einer Form der "»ständischen« Rollenzuweisung" (Beck 1986, 169), eine Beobachtung, die heute, 12 Jahre nach dem Erscheinen der "Risikogesellschaft" von Ulrich Beck nach wie vor zutreffend ist, nachdem vieles auf eine Entwicklung hin zu einer in immer höherem Maße kompetitiven also gleichsam "männlichen" Gesellschaft hindeutet. Ergreift eine Frau den Weg der ökonomischen Selbständigkeit, also die Rolle des "Berufsmenschen", wird gleichzeitig die Erfüllung alter Pflichten im Reproduktionsbereich - stillschweigend - erwartet. Bei Männern hingegen ist der Zusammenhang von Identität und Beruf ein tradierter; es gibt einen "Kanon" von Berufen, die gesellschaftliches Ansehen vermitteln und damit die männliche Identität mit definieren. Bei Frauen ist die Aneignung von Identität im Beruf weniger gebunden; es gibt hier kaum tradierte Berufsrollenzuschreibungen. In der immer noch praktizierten Erwartung der Männer, daß die Frau und nicht der Mann seine Berufstätigkeit zugunsten der Kindererziehung unterbricht, kommt weiterhin zum Ausdruck, daß seitens der Frau aus der beruflichen Tätigkeit nicht zu viel Identität bezogen werden darf; die berufliche Identität hat eine ergänzende zu sein.

Im Bereich der Sozialarbeit bin ich allerdings der Ansicht, daß das große Interesse von Frauen für diesen Beruf durchaus eine Bindung von Identität an den Beruf wiedergibt - und dies aus mehreren Gründen:

Es handelt sich um ein Berufsfeld, das noch zu "erobern" war und in dem Männer auch keine Anstrengung unternahmen, dies zu unterlaufen - vermutlich, weil die Aufstiegschancen in der Sozialarbeit begrenzt sind;

das in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts entwickelte Berufsbild der Fürsorgerin war zu seiner Zeit eine der wenigen Möglichkeiten für Frauen, überhaupt eine eigenständige berufliche Identität aufzubauen;

das Berufsbild, in dessen Mittelpunkt (zumindest vom Stereotyp her) Fürsorge und Hilfe steht, entspricht einem Teil der traditonalen weiblichen Identität: es wird Reproduktive Tätigkeit ausgeübt, die durch soziale Institutionen vergesellschaftet wurde.

Was Identität anbelangt, halte ich den letzten Punkt für entscheidend: geschlechtsspezifische Aspekte der Identität sind - wie dargestellt - nach wie vor zu einem Großteil tradiert und gebunden. Ebenso wie sich die männliche Identität als die eines "Berufsmenschen" nur wenig geändert zu haben scheint, ist dies mit der weiblichen Identität geschehen mit ihrer Zentrierung auf mitmenschliche Dimensionen. Die Affinität von Sozialarbeit und weiblicher Identität ist damit eng verbunden mit der Vergesellschaftung von reproduktiven Tätigkeiten, die früher in der Familie stattfanden und die jetzt ihren Ort in sozialen Einrichtungen haben. Das große Interesse von Frauen für ein Studium der Sozialen Arbeit ist somit mit der Geschichte des Berufs und den Bedingungen geschlechtsspezifischer Sozialisation und Identität vereinbar.

3 Männliche Identität und Sozialarbeit

3.1 Das offensichtlich geringe Interesse der Männer an sozialer Arbeit

Das geringe Interesse von Männern an Sozialarbeit ist mit dem zuvor gesagten m.E. jedoch noch nicht erklärt, denn in einer Zeit, in der der Arbeitsmarkt immer enger wird, ist Flexibilität angesagt. Viele Männer leisten Zivildienst ab und lernen so schon soziale Arbeit kennen. Das Bild vom erfolgreichen "Berufsmenschen" ist brüchig geworden. "Sensible" Männer mit hoher sozialer Kompetenz werden in den Medien positiv dargestellt, "kommen gut an". Ich sehe in diesem Zusammenhang jedoch zwei Gründe, die diese Unlust der Männer an der Sozialarbeit erklären:

a) Soziale Arbeit umfaßt - aus einer undifferenzierten Sichtweise - in vergesellschafteter Form ursprünglich dem Bereich der Hausarbeit zugeordnete Tätigkeiten wie Helfen, Pflegen, Erziehen, Betreuen, Trösten: All dies sind Tätigkeiten, die traditionell nicht als Arbeit im Sinne einer zu bezahlenden (Erwerbs-)Arbeit ernstgenommen wurden. Daran hat sich - vor allem juristisch - einiges geändert, aber in den Köpfen gilt Hausarbeit und Kindererziehung immer noch nicht als eine der Berufstätigkeit gleichwertige Tätigkeit. Eine Tätigkeit, die eigentlichkeine Arbeit ist, kann aber auch nicht "wertvoll" sein, keine berufliche Identität vermitteln. Aus Sicht einer herkömmlichen männlichen Sozialisation ist daher Sozialarbeit - überspitzt gesagt - keine Erwerbsarbeit und daher nicht erstrebenswert. Die Unattraktivität der Sozialarbeit für viele Männer korrespondiert somit klar mit der Unterbewertung der traditionellen Tätigkeit der Frauen in Haus und Familie.

b) Der Beruf des Sozialarbeiters umfaßt - als Stereotyp - vor allem Tätigkeiten, die herkömmlicherweise dem reproduktiven, familiären, "weiblichen Bereich" zugeschrieben werden. Ein Mann, der sich für Soziale Arbeit als Beruf entscheidet, entscheidet sich damit zwangsläufig - zumindest aus Sicht der Männer, die in diesen Kategorien denken - für eine Identität, die weibliche Zuschreibungen umfaßt, weil er damit vom geschlechtsrollenadäquaten Verhalten ein Stück weit abweicht. Wenn man bedenkt, welch erheblicher Druck auch heute noch auf Männern (und Frauen) lastet, sich geschlechtsrollenkonform zu verhalten (Bilden 1980, 802f) wird verständlich, daß dies Diskontinuität in die Identität vieler Männer bringen würde und deshalb vermieden wird. Ich möchte aber noch einen Schritt weitergehen: In einer Gesellschaft, in der vielfach immer noch das Weibliche mit Schwäche, ja sogar Minderwertigkeit assoziiert wird, bedeutet es für viele Männer eine Abwertung ihrer selbst, sich Identitätsmerkmale anzueignen, die traditionell Frauen zugeschrieben werden, wie z.B. eben die reproduktive Tätigkeit des Sozialarbeiters. Die Unattraktivität der Sozialen Arbeit für viele Männer hängt also auch mit der Diskriminierung der Frauen bzw. des Weiblichen generell in der Gesellschaft zusammen.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sowohl die Unterbewertung und Mißachtung von Haus- und Erziehungsarbeit wie auch die allgemeine Tendenz zur Frauendiskriminierung entscheidend dazu beitragen, daß Soziale Arbeit zumindest vorläufig nicht auch ein "Männerberuf" wird.

3.2 Welche Männlichkeit? - sind Sozialarbeiter "weibliche" Männer?

Der in meiner Einleitung zitierte Psychologe meinte wohl so etwas, indem er sagte, Sozialpädagogen seien doch keine richtigen Männer. Sozialarbeiter sind aber keine "weiblichen Männer", sondern in ihrer Sozialisation vielleicht als atypisch zu bezeichnende Männer - ganz einfach, weil sie sich in der Minderheitsposition befinden (Aus meiner Sicht ist die Bezeichnung "weiblich" für einen Mann, der sich herkömmlichen Rollen-, Identi-täts- und Charaktererwartungen in geringerem Maße anpaßt als ein irgendwie gearteter Durchschnitt, absurd. Denn dies impliziert unkritisches Denken in Kategorien traditioneller weiblicher und männlicher Stereotype.).

In Gesprächen mit Kommilitonen konnte ich feststellen, daß es Fälle gibt, bei denen sehr viel weibliche Sozialisationsfaktoren angeeignet wurden; ich bekam z.B. das Statement: "...ich sehe das nicht so, daß ich eine andere Männlichkeit habe, sondern ich habe schon viel weibliches in mir...". Aber das gilt nicht generell. Auf der anderen Seite bekam ich folgendes Statement, mit dem ein Kommilitone den Teil seiner Identität umreißt, der mit seinem Beruf - er ist außerdem Erzieher - zu tun hat: "...ich bin ein emotionaler Mensch; das mit dem Beruf verbinden, tut schon ganz gut. Ich bin bestimmt sensibler für Emotionen als andere Männer. Das hängt auch mit meiner Familie zusammen; da ist immer über alles geredet worden .. und mein Vater hat auch seine Schwächen gezeigt". Letzteres ist charakteristisch für Äußerungen von Männern in der Sozialarbeit: es befindet sich gerade nicht auf der stereotypen Schiene von männlich vs. weiblich bzw. "unmännlich"; es zeugt vielmehr von großer Differenziertheit bei der geschlechtsspezifischen Sozialisation. Man könnte somit von einer untypischen weil differenzierten geschlechtsspezifischen Sozialisation sprechen.

Ich will meine Beobachtungen zusammenfassen: Viele Männer, die in die Soziale Arbeit gehen, haben eine Sozialisation und Entwicklung erfahren, die es ihnen erlaubte oder sie auch zwang, sehr differenzierte Identitäten zu entwickeln; so sind sie weniger anfällig für die unkritische Aneignung von stereotypen (Geschlechts-)Rollenmustern.

3.3 Die Erfahrung des Andersseins

Häufig spielt nach meinen bisherigen Erkenntnissen bei der Entscheidung, Soziale Arbeit zu studieren (oft als Zweitausbildung), eine im einzelnen sehr unterschiedliche Erfahrung des "Anders-Seins" des gleichsam "Nicht-Passens" in vorgefertigte bzw. in der Sozialisation angebotene Schemata von (männlicher bzw. beruflicher) Identität eine bedeutende Rolle. Wie schon angedeutet gibt es nicht die für den männlichen Sozialarbeiter "typische" Identität; ich spürte jedoch in Gesprächen mit Kommilitonen vielfach ein Unbehagen mit tradierten Schemata männlicher Identität - mit der Konsequenz der Suche nach einer Alternative. Die Erfahrung des Anders-Seins allerdings kennt keine einheitliche Ausprägung: Bei homosexuellen Männern, die Soziale Arbeit studieren, ist es z.B. die ganz grundsätzliche Dissonanz mit herkömmlichen männlichen Rollenklischees, die sehr stark in die Identitätsbildung hineinwirkt. Eine andere mir mitgeteilte Erfahrung des Anders-Seins ist die, einfach mehr Interesse an Menschen zu haben, an Kommunikation und weniger an den Dingen, an Technik - wie in der herkömmliche männlichen Sozialisation gefördert und erwartet. Die meisten haben wohl den Druck, den Peers gerade auf männliche Jugendliche ausüben, als negativ empfunden und sich ihm entzogen.

Durch die Entscheidung, Sozialarbeit zu studieren, kann die Erfahrung des Anders-Seins integriert werden, wird Teil der (beruflichen) Identität und verliert damit das die Identität bedrohende Moment: Die Sicherheit der Identität ist - wie dargelegt - zu einem guten Teil von der positiven Rückmeldung der Umwelt (also z.B. der Gruppe) abhängig. Durch die Entscheidung, Soziale Arbeit zu studieren, begeben sich Männer in eine Gruppe, in der Anders-Sein (als die Mehrzahl der Männer) nicht nur akzeptiert sondern sogar erwartet wird. Der Spielraum, eine untypische männliche Identität - akzeptiertermaßen - zu entwickeln wird vergrößert. Eine Freisetzung aus männlichen Rollenklischees wird erleichtert.

4 Beispiele von Identitäten

4.1 Lebensläufe von männlichen Sozialarbeitern; Berufswahl

Fast ausnahmslos alle mir bekannten männlichen Studenten der Sozialen Arbeit haben vor dem Sozialpädagogik-Studium einen anderen Beruf ausgeübt bzw. eine andere Ausbildung abgeschlossen. Bei vielen habe ich den Eindruck, daß sie tendenziell in ihrem "Erstberuf" bzw. mit ihrer Erstausbildung sich nicht in Einklang mit ihrer Identität wiedergefunden haben. Sie haben in der Regel einen qualifizierten Beruf mit Aussichten erlernt: Ich kenne in meinem Studienjahrgang u.a. zwei Bankkaufleute, einen Politologen, einen Journalisten, einen Schreiner, einen Katastertechniker; ich selbst bin Jurist mit abgeschlossenem Studium. Vielerlei Faktoren können für einen Berufswechsel verantwortlich zeichnen; Berufswahl hat jedoch in der Arbeitsgesellschaft - gerade in einer Umbruchphase - den Charakter der Vergewisserung einer schon erreichten Identität. Bei einem Berufswechsel trifft dies m.E. noch deutlicher zu; der Wechsel deutet möglicherweise auch hin auf die Suche nach einer, konsistenten Identität, die im bisherigen Beruf nicht gefunden wurde.

4.2 Drei Bespiele für Identitätsbildung in Hinblick auf die Entscheidung für den Beruf der Sozialarbeit

Im folgenden möchte ich anhand von drei Beispielen von Studenten der Sozialen Arbeit beispielhaft Umrisse von Identitätsbildungen männlicher Sozialpädagogen skizzieren. Ich werde versuchen, die in dieser Hinsicht wesentlichen Aspekte der Identität von drei Kommilitonen (R., M., und B.) zu schildern, mit denen ich ausführliche Gespräche zum Thema hatte.

R.'s Identität und seine Entscheidung für die Sozialarbeit

R. hat vor seinem Studium der Sozialen Arbeit ein BWL-Studium absolviert und einige Jahre im kaufmännischen und im EDV-Bereich gearbeitet.
Er ist in den Sechzigerjahren als erstes von 5 Kindern aufgewachsen. Die Grundlage für seine Identität ist stark dadurch geprägt, daß seine Geschwister sehr bald nach ihm kamen und vor allem auch dadurch, daß sich bei seinem jüngsten Bruder schon bald nach der Geburt eine schwere geistige Behinderung herausstellte: Soziale Arbeit als mögliche Lebensbeschäftigung war für ihn schon immer selbstverständlich.

Sein Vater konnte seinen Beruf - Selbständiger in der Werbebranche - nicht ausstehen: so lernte R. gleichsam, daß - auch erfolgreiche - Erwerbsarbeit vor allem genervt, aggressiv und krank macht. Jedenfalls war sein Vater zu keinem Zeitpunkt ein positives Vorbild im Sinne einer männlichen Identität nach herkömmlichen Maßstäben, das dazu hätte führen können, daß er sich die "typisch männlichen" Muster einer beruflichen Identität angeeignet hätte.

Während seiner Schulzeit (v.a. Gymnasium) empfand er sich immer als Außenseiter, machte oft die "Erfahrung des Anders-Seins", hatte andere Interessen als seine Klassenkameraden (klassische Musik), gehörte keiner Peer-Group an, "ahnte", daß er homosexuell ist, ohne ein Coming-Out zu haben. Von dem, was in der Gesellschaft als ein "normaler" Mann gilt, fühlte er sich sehr weit entfernt.

Nach dem Abitur ließ er sich überreden, BWL zu studieren; seinen Berufswunsch, der seiner Identität entsprochen hätte, nämlich Arzt oder Psychologe zu werden, stellte er hintan (R: "... ich hatte mit 17 Viktor E. Frankl bei einem Vortrag erlebt und war restlos begeistert, las in der Folge seine Bücher, aber auch andere psychoanalytische Literatur - und wäre gerne Arzt oder Therapeut geworden [...] - ich nahm mich aber selbst nicht ernst."). Dennoch war damals für ihn schon klar, daß er sich im psycho-sozialen Bereich beruflich zuhause fühlen würde.

Was ihn letztendlich zur Sozialarbeit brachte, war sein Coming-Out als schwuler Mann. Noch gegen Ende seines BWL-Studiums gründete er in N., einer Kleinstadt, eine Schwule Selbsthilfegruppe. Zu diesem Zeitpunkt war ihm schon klar, daß er nicht nur ehrenamtlich sondern beruflich Sozialarbeit machen sollte, um beruflich mit seiner Identität kongruent zu werden. Bis zum tatsächlichen Studium der Sozialen Arbeit vergingen dann zwar noch ein paar Jahre, aber auch währen dieser Zeit gab es in Hinblick auf seine Identität als ein Mann, der wenn irgendmöglich im Sozialbereich tätig sein will, keinen Zweifel mehr.

Die Entscheidung, Soziale Arbeit zu studieren, ist bei R. Folge seiner individuellen Identitätsbildung. Grundlage in der Kindheit sind das Fehlen von klaren männlichen Rollenvorbildern im herkömmlichen Sinn. Dazu kommt in der Jugend eine anhaltende und intensive Erfahrung des Anders-Seins. Letztendlich wirklich prägnant wurde die Identität, die zum Studium der Sozialarbeit führte, in Zusammenhang mit Coming-Out, Selbsthilfearbeit und ehrenamtlicher Sozialarbeit. Zentral ist somit eine untypische männliche Sozialisation; dabei empfinde ich seine Identität nicht als "weniger männlich" bzw. weiblich, sondern lediglich nicht übereinstimmend mit den normativen Charakter- und Rollenvorstellungen von männlicher Identität in der Gesellschaft.

M.: Biographie und Identität in Erziehung und Sozialer Arbeit

M. ist knapp 40, verheiratet und hat zwei Kinder. Er hat schon eine erfolgreiche Karriere als Erzieher und Leiter eines Kinderhorts hinter sich und ist nun aufgestiegen zum übergeordneten Leiter mehrerer Kinderhorte im Schulreferat der LH München.

Von M. stammt der oben schon zitierte Satz: " ...ich bin ein emotionaler Mensch; das mit dem Beruf verbinden, tut schon ganz gut." M. erzählt, daß er in einer Familie aufgewachsen ist, in der viel gesprochen wurde, in der eine sehr offene Atmosphäre herrschte. Sein Vater sei auch nicht ein Mann gewesen, der Gefühle verbirgt, sondern er habe es gezeigt, wenn es ihm nicht gut gegangen sei. Sehr wichtig sei seine Großmutter gewesen, die die ganze Familie auf eine sehr liebevolle Weise zusammengehalten habe. Insgesamt habe die ganze Atmosphäre in der Familie schon sehr früh bei ihm dazu geführt, daß er einen Beruf ergreifen wollte, in dem er nicht mit den Dingen sondern mit Menschen zu tun habe, in dem er Menschen helfen könne. Er habe daher zunächst davon geträumt, Arzt zu werden; dies habe leider nicht geklappt, weil er das Gymnasium nicht geschafft habe. Nach der Mittleren Reife habe er dann die Erzieherausbildung begonnen. Danach sei er dann nicht gleich in den Beruf des Erziehers gegangen, sondern erst ein Jahr später. Damals sei seine Identität als Mann, der in der sozialen Arbeit tätig ist, noch nicht so sicher gewesen. Dies sei aber dann gekommen, nachdem er in seiner Arbeit recht erfolgreich gewesen sei und schon nach wenigen Jahren die Leitung eines Horts übernehmen konnte.

Hier ist sehr auffällig, daß der Vater zwar ein männliches Rollenvorbild im tradierten Sinn ("Familienoberhaupt") gegeben hat, aber kein "typisch männliches" (Schwächen verbergen); einen wichtigen Einfluß übte die Großmutter aus, wodurch "Beziehungsarbeit" und emotional helfende Tätigkeit sehr positiv besetzt war. Durchgängig ist in diesem Fall die Verknüpfung des Erfolgsaspektes, der für die Identität der Männer vielfach sehr wichtig ist, mit der eigentlichen Berufsidentität als "Beziehungsarbeiter" und Helfer: Zunächst der Wunsch den männlicherseits anerkannten Beruf des Arztes zu ergreifen und später das letztendliche "klarkommen" mit der Identität als sozial tätiger Mann durch den beruflichen Erfolg in diesem Bereich. Dies entspricht einer Beobachtung die ich immer wieder mache: Männliche Sozialarbeiter sind entweder erfolgreich, erreichen eine Leitungsposition, oder wechseln irgendwann den Beruf (z.B. zwei Männer aus dem Ausbildungsjahrgang von M.: Einer fährt inzwischen Taxi, der andere ist Gebietsleiter einer Versicherung). Zentral ist hier die Möglichkeit, eigene Emotionalität und Spaß an der Beziehungsarbeit in den Beruf einzubringen und dies mit einer erfolgreichen Karriere im herkömmlichen Sinn zu verbinden. Auch hier ist die männliche Identität sehr differenziert. Jedenfalls entspricht sie nicht den Stereotypen herkömmlicher "Männlichkeit".

B.: Identität und die Entscheidung für Sozialarbeit als Beruf

B., ca. Mitte 20, ist in einer Kleinstadt, fast auf dem Land, aufgewachsen. Er hat nach der Mittleren Reife eine Ausbildung zum Katastertechniker gemacht, dann das Abitur nachgeholt und studiert jetzt nach seinem Zivildienst Soziale Arbeit.

B. erzählt, er sei hauptsächlich unter Frauen aufgewachsen: Mutter, Oma, Tante und drei Schwestern; der Vater habe furchtbar viel gearbeitet und sei wenig präsent gewesen. Die Tante sei krank gewesen und sitze wegen einer sehr schweren Form von Rheuma seit 40 Jahren im Rollstuhl. Der Umgang mit Behinderung sei damit für ihn von Anfang an alltäglich gewesen; Pflegetätigkeit sei für ihn so etwas wie "Üben für das Leben" gewesen. Dies habe ihn geprägt. Dies habe auch zu einer Zuverlässigkeit bei ihm geführt, die fast ins zwanghafte gehe.

Daß er nicht seinen erlernten Beruf als Katastertechniker (Beamtenlaufbahn) ausüben wolle, wurde ihm mit seinem homosexuellen Coming-out (wohl während der Ausbildung) klar, wörtlich, daß er als "Beamter in einer Kleinstadt - bis zur Pension - so nicht leben wollte". Nach dem Zivildienst, der für ihn der Einstieg in das beruflich Soziale war, war für ihn die Berufswahl endgültig klar. Die ganze Entwicklung sei weniger auf bewußter Ebene abgelaufen, wörtlich: "... aber irgendwann war ich da, wo ich hin sollte".

Bei B. ist, wie er weiter betont, der Gruppenaspekt von besonderer Bedeutung: unter Menschen zu sein, zu denen man irgendwie gehört. Wie oben dargelegt, bedarf Identität, um konsistent zu bleiben, vielfach der positiven Rückmeldung durch die Menschen in der sozialen Umgebung; dies kommt hier deutlich zum Ausdruck. B. meint, daß er in seiner Identität mehr weibliche Anteile sieht; für ihn sei dies mehr der Fall als eine "andere Männlichkeit".

Bei B. stehen damit drei Dinge im Mittelpunkt: Eine sehr stark weiblich geprägte primäre Sozialisation: Frühe Übernahme pflegender Tätigkeit (Tante). Hinzu kommen fast ausschließlich weibliche Rollenvorbilder durch die starke Anwesenheit von Frauen in der Familie und die fast vollständige Abwesenheit von Männern. Weiter kommt es zu einer sehr intensiven Erfahrung des Anders-Seins als schwuler Mann. Schließlich spielt die Gruppenidentität, der Wunsch mit Menschen zusammen zu sein, die die eigene Identität bestätigen, eine große Rolle. Grundlage für die Identitätsbildung ist die Erfahrung, nicht nur anders als sondern konträr zu männlichen Charakterstereotypen zu sein. Die Entscheidung für soziale Arbeit ist damit auch ganz deutlich ein - erfolgreicher - Versuch, das von der Gesellschaft oft negativ gesehene Anders-Sein positiv zu integrieren.

5 Schlußfolgerungen

5.1 Distanz zu männlichen Stereotypen als gemeinsame Dimension von Identität bei männlichen Sozialarbeitsstudenten

Aus den theoretischen Vorüberlegungen sowie aus den Statements meiner Kommilitonen geht für mich hervor, daß die Entscheidung für oder gegen die Sozialarbeit als Beruf bei Männern sehr viel mit ihrer Nähe oder Distanz zu herkömmlichen Rollenstereotypen und zu tradierten Grundzügen männlicher Identität zu tun hat. Bei M. ist zwar das Stereotyp des beruflichen Erfolges, der den Mann auszeichnet von Bedeutung: M. konnte sich mit seiner Aufgabe vollständig identifizieren, als er Erfolg hatte. Ansonsten ist M. aber weit vom männlichen Stereotyp entfernt und auch bewußt distanziert, weil es eben nicht seiner Identität entspricht. Bei B. ist die Distanz besonders groß. Auch für mich kann ich sagen: Ein Mann, der männlichen Stereotypen entspricht, der bin ich nicht. Nach meiner bisherigen Analyse entsteht diese Distanz grundlegend schon früh in der Sozialisation. Beispiele: Der Vater zeigt auch Schwäche, die Großmutter ist wichtig (M.); bzw. der Vater ist nicht präsent sondern Mutter, Schwester und Tante (B.); bzw. der Vater gibt ein negatives oder zumindest nicht selbstbewußtes Bild von rollentypischem Verhalten. Weiter verantwortlich für die Distanz zur herkömmlichen Männlichkeit ist in vielen Fällen eine Grundlegende Erfahrung des Anders-Seins bzw. des Außenseiterseins, so daß der Junge den Teil der Identitätsbildung in Peer-Groups nicht mitmacht.

5.2 Ausblick: Identität als Sozialarbeiter und Freisetzung aus dem männlichen Rollenzwang?

Gerade in den letzten Jahren hat sich gezeigt, daß es zu einer tatsächlichen Freisetzung aus Rollenzwängen gerade beim Mann nicht kommt. Vielmehr wird - nach meiner Beobachtung in letzter Zeit sogar verstärkt - weiterhin das Ideal des "starken", beruflich erfolgreichen Mannes gepredigt, der "aufsteigt" und damit über andere Macht hat, der sich für seinen Beruf aufopfert und Ruhm dafür erntet und der, wenn er sich krank gearbeitet hat, keinen Schmerz und kein Gefühl kennt. (Signifikant ist beispielsweise auch der neue, extreme Körperkult bei Männern, z.B. beim Body-Building: das Bild des archaischen Helden als 'regressives' Identitätsmuster.) Auch wenn dies eine klischeehafte Darstellung ist: Fest steht, daß es Männer, die sich mit diesem eindimensionalen Diktat des Erfolges nicht identifizieren wollen, schwer haben: Sie haben die Auswahl zwischen Arbeitslosigkeit und Armut, niederen Tätigkeiten, Hausmann-Sein auf der einen Seite - und Krankenpflege, Erzieherberuf und Sozialarbeit auf der anderen.

Ich sehe daher in der Entscheidung eines Mannes, in die Sozialarbeit zu gehen, auch einen Versuch, sich dem männlichen Rollendiktat im Berufsleben zu entziehen und dennoch einen - wenn auch nicht bei allen - anerkannten Beruf zu haben. So wird eine Identität gefestigt, die sich dem männlichen Rollenstereotyp widersetzt. Männer, die in die Sozialarbeit gehen, schaffen sich so eine berufliche Identität, die trotz der gegebenen Verhältnisse im Erwerbsleben eine teilweise Freisetzung aus dem männlichen Rollenzwang erlaubt. Wenn ein Sozialarbeiter später nach einer höheren Position in einer Einrichtung strebt, holt er sich wieder ein Stück tradierte männliche Identität zurück: Erfolg und Macht. Nur: das geht dann wieder auf Kosten der Freisetzung.

Literaturverzeichnis

Beck, Ulrich: Risikogesellschaft - Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986

Bilden, Helga: Geschlechtsspezifische Sozialisation, in: Hurrelmann, Klaus u.a., Hg., Handbuch der Sozialisationsforschung, Weinheim und Basel 1980, S.777 - 812

Rerrich, Maria: Weibliche und männliche Studierende und Lehrende an den Fachhochschulen in Bayern (Stand WS 1996/97)

Wagner, Peter: Soziologie der Moderne : Freiheit und Disziplin, Frankfurt/M; New York 1995



(1)   Dies ist die leicht modifizierte Fassung einer Seminararbeit, die im Sommersemester 1998 am Fachbereich Sozialwesen der Fh München eingereicht wurde. Selbstverständlich freue ich mich, wenn ich zitiert werde. Nennen Sie aber bitte in jedem Fall Ihre Quelle - so, wie das eben üblich ist. Danke!


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© Florian Fell, 20. Juli 1999